Wirtschaft

Gesundheitscheck Europa: Italien könnte andere Euroländer infizieren

Ein Kommentar von Carsten Mumm, Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Privatbank Donner & Reuschel

Schroder bewertet gesamteuropäischen Aktienmarkt positiv

Bei der vorgezogenen Neuwahl zum britischen Unterhaus hat die amtierende Premierministerin Theresa May – anders als von ihr vorgesehen – die absolute Parlamentsmehrheit verloren. Durch die nun anstehenden Koalitionsverhandlungen wird der für den 19. Juni geplante Start der Brexit-Verhandlungen mit der EU voraussichtlich erneut verzögert. Auf die Kapitalmärkte hatte das Ereignis wie erwartet jedoch kaum Auswirkungen. Der Blick der Marktteilnehmer richtet sich daher zunächst wieder auf die Eurozone.

Am gestrigen Sonntag sowie am 18 Juni werden die französischen Wähler erneut zweimal hintereinander zur Urne gerufen: die Parlamentswahlen stehen auf dem Programm. Nachdem die Bewegung „La République en Marche“ sich zu einer Partei gewandelt hat, stehen die Chancen gut, dass Emmanuel Macron die für die Umsetzung seiner Pläne notwendige Parlamentsmehrheit erringen kann.

Im schlechtesten Fall könnte es auch hier zu langwierigen Koalitionsverhandlungen und / oder einer geringen politischen Durchsetzungskraft des neuen französischen Präsidenten kommen. Dann würden dringend notwendige Strukturreformen nur verzögert oder deutlich abgeschwächt auf den Weg gebracht werden. Der Zusammenhalt der Eurozone würde dadurch aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Wahlen in Europa

Auch die auf den 24. September beziehungsweise 15. Oktober datierten Bundestagswahlen in Deutschland beziehungsweise Nationalratswahlen in Österreich haben für den gemeinsamen Währungsraum keine erhebliche politische Sprengkraft. Eigentlich wäre der Intensivpatient Europa damit also eindeutig auf dem Wege der Besserung – wäre da nicht noch Italien.

Dort finden spätestens im Frühjahr 2018 Parlamentswahlen statt. Dabei könnte die populistische und eurokritische 5-Sterne-Bewegung „Beppe Grillos“ eine Mehrheit erringen. In diesem Fall stünde voraussichtlich eine Volksabstimmung über den Verbleib Italiens im Europäischen Währungsraum auf der Agenda – mit ungewissem Ausgang.

Je näher der Wahltermin rückt, umso wahrscheinlicher sind entsprechende Reaktionen der europäischen Börsen. In den Wochen unmittelbar vor dem Urnengang ist mit steigenden Risikoaufschlägen für italienische Staatsanleihen zu rechnen. An den europäischen Aktienbörsen sind weitere Kurssteigerungen vorerst unwahrscheinlich. Eher ist von seitwärts tendierenden oder leicht fallenden Kursen auszugehen. Sollte dann tatsächlich die Partei Grillos stärkste Kraft werden, sind zumindest kurzfristig heftigere Turbulenzen zu erwarten – voraussichtlich auch an den globalen Aktien-, Renten- und Währungsbörsen.

Italien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone.

Das italienische Bankensystem ist aufgrund einer Fülle an zweifelhaften Kreditforderungen angeschlagen. Zudem bestehen enge Verflechtungen Italiens zu den anderen Euro-Teilnehmerstaaten, beispielsweise über gegenseitige Unternehmensbeteiligungen oder das Europäische System der Zentralbanken.

Ein Ausscheiden des Landes aus der Eurozone würde die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung des gesamten Währungsraums deutlich erhöhen. Italienische Unternehmen und der Staat könnten ihre Euro-Schulden im Ausland angesichts einer deutlich schwächeren neuen Währung kaum zurückzahlen. Unternehmen und Staaten der anderen Eurostaaten müssten entsprechende Abschreibungen vornehmen. Die bisher wirksame Akut-Medizin gegen die europäische Schuldenkrankheit – die ultra-expansive Geldpolitik der EZB – würde voraussichtlich nicht mehr ausreichen. Die Eurozone könnte sogar einen tödlichen Infarkt erleiden.

Dieses Szenario ließe sich am besten durch eine prophylaktische Impfung im Sinne einer dynamischen – ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen – Entwicklung Europas in den kommenden Monaten verhindern. Hier gibt es bereits positive Signale. Die europäische Konjunktur entwickelt sich weiterhin sehr robust. Diverse Frühindikatoren deuten auf eine weitere Wachstumsbelebung in 2017 und 2018 hin.

Die Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ mobilisiert weiterhin Tausende zu regelmäßigen proeuropäischen Kundgebungen.

Auch politisch gibt es zunehmende Lebenszeichen proeuropäischer Kräfte. Nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich zeichnet sich eine enge Zusammenarbeit der französischen mit der deutschen Regierung ab. Zumeist geht es in gemeinsamen Erklärungen Macrons und Merkels auch um die Zukunft der Eurozone.

Die europäische Kommission hat im März ein „Weißbuch zur Zukunft Europas“ veröffentlicht, in dem verschiedene Szenarien für die zukünftige Zusammenarbeit der europäischen Nationalstaaten dargestellt werden. Diese reichen von einer tieferen Integration über eine engere Zusammenarbeit bei ausgewählten Aspekten, z.B. dem Binnenmarkt, bis zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten.

Dadurch soll bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2019 eine öffentliche Diskussion über die gewünschte zukünftige Ausgestaltung Europas angeregt werden. Die deutliche Aufwertung des Euro in den vergangenen Wochen unterstreicht den aufkommenden Euro-Optimismus.

Alle genannten Aspekte benötigen jedoch mehr Zeit,

um eine stärkere positive Ausstrahlwirkung auf die europäische Bevölkerung zu erzielen. Genau hier ist das Problem: jüngst brachte der italienische Ex-Premierminister und Kandidat der italienischen Demokraten Matteo Renzi als Zeitpunkt für die anstehende Parlamentswahl bereits den Herbst 2017 ins Spiel.

Auch wenn die Zeit knapp ist und es vor der Wahl noch einige administrative Regelungen vorzunehmen gilt (v.a. Verabschiedung des italienischen Haushalts für 2018 sowie die Einigung der großen italienischen Parteien auf eine Wahlrechtsreform), unterstützen derzeit alle großen italienischen Parteien einen vorzeitigen Wahltermin.

Das in der Juni-Ratssitzung noch einmal bekräftigte klare Bekenntnis der EZB, bis auf weiteres an ihrer geldpolitischen Ausrichtung festzuhalten, mag auch dem potenziellen Italien-Risiko geschuldet sein. Es ist allemal besser, den Börsen in dieser Situation die Medikation vorerst zu lassen, als vorschnell eine geldpolitische Straffung anzukündigen, die ggf. kurzfristig wieder korrigiert werden müsste.

Hoffen wir, dass die Genesung der Eurozone bis zur Italien-Wahl ausreichend ist, um die antieuropäische Attacke auf das Immunsystem zu überstehen… (Donner&Reuschel)

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