Vor einem Jahr führte die rasante Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 in Europa zu einer bis dahin undenkbaren Reaktion: Die EU beschloss, gemeinsam Schuldscheine für insgesamt 750 Milliarden Euros aufzunehmen, um damit den wirtschaftlichen Einbruch, den die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung bewirkten, zu neutralisieren. Kurz davor hatte das Europäische Parlament das Programm des European Green Deals verabschiedet, das Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen sollte. Von diesen beiden historischen Beschlüssen erwarteten viele die Überwindung der Pandemie und einen grünen Investitionsschub. In Europa begann sich Aufbruchstimmung auszubreiten.
Inzwischen macht sich Ernüchterung breit. Die Impfkampagne verheddert sich in Deutschland und europaweit in Implementationsfehlern. Der Einbruch an privaten Investitionen wird für 2020/21 auf über 800 Milliarden Euro geschätzt – größtenteils in Südeuropa. Dem wäre mit Zuschüssen von über einer Billion Euro bis Ende 2021 beizukommen. Doch die Zuschüsse des EU Recovery Fund betragen gerade einmal 310 Milliarden Euro, verteilt über rund fünf Jahre. Ohne energische neue Maßnahmen ist das Risiko politischer Verwerfungen und einer neuen Eurokrise nicht von der Hand zu weisen.
Zum Glück zeichnet sich ein Ausweg ab. Letzten Oktober nahm die EU 17 Milliarden Euro zur Finanzie- rung EU-weiter Kurzarbeitsmaßnahmen auf. Das gelang zu einem negativen Zins von minus 0,26 Prozent. Die Nachfrage übertraf das Angebot um mehr als das Dreizehnfache. Die EU kann also durchaus die Beträge aufnehmen, mit denen der dringend angezeigte grüne Investitionsschub finanziert werden kann. Dazu könnten zum Beispiel ein EU-weites Netz von mit erneuerbarem Strom betriebenen Hochgeschwin- digkeitszügen gehören sowie Maßnahmen des Green Deals, die Beschäftigung und Wohlstand ermög- lichen.
CARLO JAEGER