Zwei Zahlen verdeutlichen die desolate wirtschaftliche Verfassung Italiens: Die Arbeitnehmerproduktivität lag Ende 2019 – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – etwa 3,5 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2000. In knapp zwanzig Jahren wuchs die italienische Wirtschaftsleistung insgesamt um knapp 4 Prozent – im gesamten Euroraum waren es mehr als 26 Prozent. Die Ursachen der Misere sind seit langem bekannt: eine überdimensionierte und schlecht organisierte Verwaltung, ein ineffizientes Steuersystem, viel zu lange Gerichtsverfahren mit höchst ungewissem Ausgang, ein zu stark regulierter Arbeitsmarkt, ein latent instabiles und notorisch reformunfähiges politisches System und aus all dem resultierend eine zu schwache Innovationskraft.
Italiens Wirtschaft weit abgeschlagen
Im jüngsten Wettbewerbsfähigkeits-Ranking des Lausanner Managementinstituts IMD findet sich Italien auf Platz 44 zwischen Indien und den Philippinen wieder. Die Platzierung ist seit Jahren relativ stabil, gebessert hat sich kaum etwas, und so nahm über die Jahre nicht nur der Verdruss der Bürger an ihrer eigenen politischen Klasse zu, sondern auch der an der europäischen Einigung und schließlich am Euro als der gemeinsamen Währung. Letztere erlaubt es den Italienern seit nunmehr 20 Jahren nicht mehr, sich durch fortwährende Abwertung der eigenen Währung immer wieder ein Stück Wettbewerbsfähigkeit zurückzukaufen, die anschließend durch politisches Nichtstun wieder verlorengeht.
Draghi setzt auf Einigkeit
Nun tritt der überzeugte Europäer Mario Draghi als Chef einer Regierungskoalition an, die nicht nur von fast allen im Parlament vertretenen Parteien unterstützt wird, sondern neben Berufspolitikern auch Fachexperten umfasst. Draghis Ziel: das Wachstumspotenzial der Wirtschaft zu verbessern. Das Mittel dazu: die erforderliche Modernisierung des Landes, also eine umfassende Reform des Staatsapparates und der Justiz, eine große Steuerreform, die Förderung erneuerbarer Energien, die Forcierung der Digitalisierung und die Förderung der E-Mobilität im Verkehr. Das Vorhaben ist sehr ambitioniert, und man wird sehen müssen, ob Draghi gelingt, woran in diesem Jahrhundert bereits mehrere Ministerpräsidenten vor ihm – von Romano Prodi über Mario Monti bis zu Matteo Renzi – mehr oder weniger spektakulär gescheitert sind: Die Polarisierung des politischen Systems in Italien zu überwinden und stabile Regierungskoalitionen zu schmieden, die sich dauerhaft als reformwillig und -fähig zeigen. Zweifel daran sind angebracht. Es gibt aber einen Faktor, der die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs erhöht: Das sind jene 209 Milliarden Euro, die demnächst aus dem europäischen Wiederaufbaufonds nach Italien fließen werden. Dieses Geld kann und soll als Anschubfinanzierung für Investitionen dienen, die der Modernisierung zugutekommen. Diese Mittel eröffnen aber auch die Möglichkeit, potenzielle Verlierer von Reformen zu kompensieren. Zwischen beiden Zielen besteht zweifellos ein Konflikt: Je mehr Gelder für den sozialen Ausgleich verwendet werden, desto weniger steht für Investitionen zur Verfügung. Genau an diesem Spannungsverhältnis war die Regierung Conte letztlich zerbrochen.
Mitgliedschaft im Euroraum steht auf dem Spiel
Es ist Draghi zuzutrauen, dass er hier eine ausgewogene Mischung findet. Jedenfalls muss er nicht von vornherein befürchten, das Schicksal seiner griechischen Amtskollegen Papadimos und Samaras zu erleiden, die ihr Land ebenfalls modernisieren wollten, dies aber mit einem beispiellosen Sparprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen verbinden mussten und damit politisch eigentlich nur scheitern konnten. Das italienische Experiment unterscheidet sich vom griechischen dadurch, dass zuerst mit Hilfe massiver finanzieller Stimuli die Wachstumskräfte gestärkt werden sollen, und erst dies die Voraussetzung für eine Rückführung des hohen Schuldenstandes darstellt. Allerdings sind Draghi und Italien insgesamt auch zum Erfolg verdammt: Bessere Voraussetzungen für erfolgreiche Reformen sind kaum vorstellbar, und ein Scheitern würde wohl endgültig den Sieg europafeindlicher Populisten und damit ein Ende der Mitgliedschaft Italiens im Euroraum nach sich ziehen.
(FERI Gruppe)