„Die Zahl der internationalen Krisen reißt nicht ab. Auch in diesem Jahr bestimmen Handelskonflikte, Brexit und weltweite Flüchtlingsströme die Schlagzeilen“, sagte Dr. Silvius Grobosch, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), am Mittwoch auf dem 54. BME-Symposium Einkauf und Logistik vor Journalisten in Berlin.
Die genannten Ereignisse lasten auf den ohnehin schon fragilen Wertschöpfungs- und Lieferketten. Deshalb sei der Einkauf mehr denn je gefordert, die für seine Beschaffungsaktivitäten relevanten Märkte regelmäßig zu scannen und sein gesamtes Risikomanagement einem kontinuierlichen Stresstest unterziehen. Nur dann werde er seiner Rolle als Innovationstreiber im Unternehmen gerecht und zu einem echten Tempomacher. Der BME als Europas führender gemeinnütziger Fachverband für Supply Chain, Einkauf und Logistik habe deshalb „#pacesetter“ zum zentralen Veranstaltungsmotto seines diesjährigen Symposiums erklärt.
„Tempomacher im Sinne unseres Verständnisses ist jemand, der den Erfolg des gesamten Teams, unabhängig vom eigenen Wettbewerbserfolg, sicherstellt“, erläuterte Grobosch. Einkäufer, Logistiker und Supply Chain Manager seien Schrittmacher im besten Sinne des Wortes; denn sie setzten Trends bei der Einführung neuer digitaler Technologien und Beschaffungsprozesse, denen andere später folgen können. Mit der richtigen Einstellung böten sie Orientierung und Motivation für ihre Teams, um im Wettlauf um Talente, Ressourcen, Innovationen und Know-how vorn zu bleiben.
BME: Aktuelle Trends in Einkauf und Supply Chain Management
Die Exportnation Deutschland leidet zunehmend unter den globalen Handelsstreitigkeiten und bekommt deren Auswirkungen mit voller Wucht zu spüren. Vor allem der anhaltende Konflikt zwischen der US-Administration und der politischen Führung in Beijing, lähmt die Weltwirtschaft und zerrt an den Nerven der Unternehmen. Dort denken bereits einige Konzernlenker darüber nach, ihre Investitionspläne zurückzufahren oder sogar ganz auf Eis zu legen. Die deutsche Wirtschaft kann sich diesem Abwärtstrend nicht entziehen und beginnt, den Herbst-Blues zu spielen. Der anhaltende Negativtrend lässt sich sehr gut am aktuellen IHS Markit/BME-Einkaufsmanager-Index (EMI) ablesen, der im Oktober mit 42,1 gegenüber dem Vormonat zwar marginal um 0,4 Punkte gestiegen ist, aber trotz leichter Verbesserung weiterhin nahe dem Zehnjahrestief notiert. Gleichzeitig bewegt sich der wichtige Frühindikator für die Entwicklung des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland bereits den zehnten Monat in Folge unter der magischen 50-Punkte-Referenzlinie, ab der wirtschaftliches Wachstum signalisiert wird. Die Oktober-Daten bestätigen einmal mehr: Die Industrie der größten Volkswirtschaft Europas befindet sich in der Rezession.
Rohstoffmärkte weiter volatil
Der US-amerikanische Protektionismus belastet nicht nur die globale Konjunktur, sondern wirkt sich auch negativ auf die Entwicklung an den internationalen Rohstoffmärkten aus. Ob die Notierungen, insbesondere für Industrierohstoffe, im nächsten Jahr wieder anziehen, sich weiter seitwärts bewegen oder sinken, ist derzeit ungewiss. Fakt ist allerdings, dass letztlich die Entwicklung der Weltwirtschaft darüber entscheiden wird, in welche Richtung die Preise drehen. Schon jetzt ist dagegen klar, dass sich industrielle Rohstoffeinkäufer auch 2020 auf volatile Rohstoffmärkte – und das quer durch alle Segmente – einstellen müssen. Zünglein an der Waage könnte China sein: Wenn in der größten Volkswirtschaft Asiens die Konjunktur wieder anziehen sollte, der staatlich gelenkte Umstrukturierungsprozess der Industrie erfolgreich verläuft und weitere US-Strafzölle auf chinesische Waren ausbleiben, dürfte der damit verbundene Rohstoffhunger des Landes die Preise wieder befeuern. Denn: Die Volksrepublik ist bereits heute sowohl beim Rohstoffbedarf als auch in der Rohstoffproduktion weltweit die Nummer eins.
Potenziale digitaler Lieferketten stärker nutzen
Obwohl Buzzwords wie Industrie 4.0 oder Big Data in aller Munde sind, nutzen noch nicht alle Supply Chain Manager die Vielzahl der Instrumente zur Digitalisierung ihrer Lieferketten. Zu oft dominiert ein Patchwork von Stand-alone-Lösungen. Es fehlt häufig an integrierten Workflows und vor allem an einer Digitalstrategie, die Einkauf und Supply Management helfen, zum Enabler des industriellen Internets der Dinge zu werden. Eine Online-Erhebung des BME und der Fachhochschule Fulda hat dazu erstaunliche Ergebnisse gebracht. So sind zwar viele der aktuellen Digitalisierungstechnologien wie Roboter und Automatisierung oder selbstfahrende Fahrzeuge den befragten Supply Chain Managern bekannt; dennoch gibt es beispielsweise mit „Uberization of freight“ oder „Low-cost Sensor Technology“ elektronische Lösungen, die von ihnen kaum oder gar nicht genutzt werden. Der BME appelliert deshalb an die Entscheidungsträger in den Unternehmen, bestehende Wissenslücken schnell zu schließen. Ansonsten besteht insbesondere für KMU die Gefahr, den Digitalisierungszug zu verpassen.
SCM befindet sich in großer Umbruchphase
Das Supply Chain Management (SCM) befindet sich mitten im Strukturwandel. Lange Zeit war die Rollenverteilung klar: Produktentwicklung, Marketing und Produktion gaben in den meisten Unternehmen den Ton an. Sie definierten Produkte und Strategien für den Markterfolg. Die Supply-Chain-Optimierung hatte im Wesentlichen die Funktion, die Kostenstrukturen weiter zu optimieren und die Lieferfähigkeit sicherzustellen. Aber die Zeiten ändern sich radikal und so auch die Boardroom-Gespräche der Chief Supply Chain Officer. In einer Welt, in der die wichtigsten Anbieter von Hotelzimmern (Booking.com, HRS, Airbnb) keine eigenen Hotels mehr haben und die größten Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen (wie Uber) keine eigenen Autos mehr besitzen, werden Versorgungsdienstleistungen zum Kern eines Produktes.
Es besteht kein Zweifel daran, dass jeder erfolgreiche Beschaffungs- und Supply-Chain-Leiter auf dem neuesten Stand ist, wenn es darum geht, die aktuellen Herausforderungen in seinem jeweiligen Bereich zu meistern. Der wahre Erfolg wird jedoch in Zukunft zu einem großen Teil durch intelligente Kooperationen innerhalb verschiedener Geschäftsfunktionen bestimmt. Ein gemeinsamer Intelligenzansatz wird es ermöglichen, Informationen zu sammeln, zu analysieren und zu verbreiten, die eine intelligente Entscheidungsfindung auf individueller Ebene unterstützen und dabei die Rolle eines Schrittmachers übernehmen.
Diejenigen, die Informationsströme dominieren, beherrschen den Markt. Dies ist eine völlig neue Verantwortung für den Lieferkettensektor. Wer auf dem Fahrersitz sitzt, muss auch die Verantwortung für die Richtung übernehmen. Die reine Effizienz-Logik, die seit langem der Kompass für die Branche ist, reicht künftig nicht mehr aus.
Matchplan zur Risikobewältigung
Der Sturm gewinnt Spiele, die Abwehr Titel, heißt es im Fußball. Auch Firmen benötigen neben einer schlagkräftigen Offensive auf Absatzmärkten eine funktionierende Verteidigung zur Risikoabwehr. Der Matchplan heißt risikoorientiertes Lieferkettenmanagement. Die meisten Führungskräfte in Beschaffung und Supply Chain Management wissen, dass Lieferkettenrisiko ein wichtiges Thema ist. Was überwiegend häufig noch fehlt, ist eine systematische und eine in der Strategie verankerte risikoorientierte Steuerung und Überwachung des gesamten Geschäftsbetriebs.
Nachhaltigkeit: Größter Hebel liegt im Einkauf
„Weniger ist mehr“ – ein Motto, das in vielen Bereichen der Wirtschaft immer stärker berücksichtigt wird und angesichts der drohenden Klimaveränderung ein Gebot der Stunde ist. Auch für den Einkauf hat das wichtige Thema Nachhaltigkeit eine große Relevanz. Denn: Die Procurement-Abteilungen sitzen an den Schalthebeln für Nachhaltigkeit im gesamten Unternehmen. Sie haben es im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand, den Ressourcenverbrauch im Einkaufsprozess zu minimieren, stärker auf erneuerbare Energien zu setzen oder Gefahrstoffe in der Produktion zu vermeiden. Der BME appelliert an die Unternehmen, das Thema Sustainability noch stärker in ihren Arbeitsprozessen zu berücksichtigen. Anfang Juni 2019 fand das Kick-Off-Treffen der neuen Fachgruppe „Nachhaltigkeit im Einkauf“ in der BME-Geschäftsstelle in Eschborn statt. Das im Aufbau befindliche Expertengremium wird u.a. konkrete Nachhaltigkeitsstrategien im Einkauf entwickeln.
BME treibt Weiterentwicklung des Verbandes konsequent voran
Im Rahmen seiner Langfriststrategie „BME 2030“ hat der Einkäuferverband auch in diesem Jahr viele neue innovative Ideen erfolgreich realisiert. So wurden beispielsweise im Veranstaltungsbereich neue inhaltliche Formate ins Leben gerufen. Dazu zählt die „Disrupting Procurement!“, die aus dem Stand ein voller Erfolg war. Etablierte und erfolgreiche Formate wie das BME-Symposium Einkauf und Logistik oder die BME-eLÖSUNGSTAGE wurden weiterentwickelt. Der European Procurement Excellence Summit in Dresden wurde um einen Teilkongress für Supply Chain Executives ergänzt, um ein Zeichen für die notwendige crossfunktionale Zusammenarbeit beider Bereiche zu setzen.
Der BME hat 2019 seine internationalen B2B-Aktivitäten für Einkäufer weiter ausgebaut. Er bot den Mitgliedern und Einkäufern aus Unternehmen aller Größen und Branchen in den vergangenen Monaten wieder zahlreiche Möglichkeiten, neue Sourcing-Märkte und Lieferanten zielgerichtet kennenzulernen und diese in ihre bestehenden Sourcing-Strukturen passgenau zu integrieren. 2019 haben knapp 300 BME-Mitgliedsunternehmen an den grenzüberschreitenden Veranstaltungen des BME in Europa und Nordafrika teilgenommen. Diese speziell auf die Prozesse und Bedürfnisse der Einkäufer ausgerichteten Aktivitäten werden 2020 ausgebaut. Auch im neuen Jahr steht Osteuropa im Fokus des BME. Darüber hinaus ist erstmals eine Einkaufsinitiative Maghreb geplant.
In China war der BME 2019 Ausrichter mehrerer Netzwerkaktivitäten und Formate wie dem Procurement Executive Round Table in Shanghai und dem 3. Sino-German Procurement 4.0 Summit in Chengdu. Im Westen der Volksrepublik hat der Einkäuferverband den Zuschlag für ein Förderprojekt erhalten. Kooperationspartner sind die IAIT-Institut für Automatisierung und Industrie Technologie GmbH sowie Regierungsorganisationen der Provinz Sichuan und der Stadt Chengdu/Pujiang. Ebenfalls dabei ist die Sino-German (Pujiang) SME Cooperation Zone. BME und IAIT werden gemeinsam mit ihren chinesischen Partnern zunächst die Möglichkeiten des westchinesischen Beschaffungsmarktes ermitteln. Später sollen dann Lieferanten der Region mit interessierten deutschen und europäischen Unternehmen zusammengeführt werden. Dafür wird derzeit eine onlinebasierte „Sino Europe Procurement Platform“ aufgebaut.
(BIP)