Kaum ein Thema in der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) wird derzeit so intensiv diskutiert wie die konkrete Verweisung. Während die abstrakte Verweisung längst der Vergangenheit angehört, bleibt die konkrete Variante ein spannender Balanceakt zwischen Fairness, Kalkulationssicherheit und gelebter Kundenorientierung. Doch was passiert, wenn, wie aktuell geschehen, Versicherer auf die konkrete Verweisung verzichten? Die Antwort ist alles andere als einfach – und birgt Chancen wie Risiken gleichermaßen.
WIE FUNKTIONIERT DIE KONKRETE VERWEISUNG?
Die konkrete Verweisung erlaubt es dem Versicherer, die BU-Leistung einzustellen, sobald die versicherte Person nach Eintritt der Berufsunfähigkeit tatsächlich eine neue, gleichwertige Tätigkeit aufnimmt. Entscheidend ist dabei die reale Ausübung eines Berufs, der in Einkommen, Verantwortung und sozialem Status der bisherigen Lebensstellung entspricht.
Ziel dieser Regelung ist es, Doppelleistungen zu vermeiden und die Wirtschaftlichkeit der Tarife zu sichern. Wer also nach Krankheit oder Unfall wieder in einer vergleichbaren Position arbeitet, soll nicht zusätzlich eine BU-Rente beziehen. In der Praxis führt diese Klausel jedoch häufig zu Unsicherheiten und Rechtsstreitigkeiten, etwa bei der Frage, wann zwei Berufe wirklich als gleichwertig gelten.
VERZICHT AUF DIE KONKRETE VERWEISUNG: MEHR KLARHEIT, MEHR RISIKO?
Die Vorteile eines Verzichts:
• Transparenz: Klare und transparente Bedingungen erleichtern das Verständnis der Leistungen.
• Weniger Konflikte: Im Leistungsfall gibt es seltener Streit zwischen Versicherten und Versicherer.
• Vertrauen: Das Ansehen und das Vertrauen in die Versicherung wachsen.
DIE RISIKEN UND HERAUSFORDERUNGEN:
• Steigende Kosten: Die Dauer der Leistungsfälle steigt, was sich mittelfristig in der Kalkulationen niederschlägt.
• Kalkulatorische Unsicherheit: Die langfristige Planung wird schwieriger, Rückstellungen müssen wachsen.
• Druck auf die Kapitalanlagen, um die garantierten Leistungen weiterhin sichern zu können.
• Unklare Abgrenzung bei beruflicher Neuorientierung.
• Belastung des gesamten Versichertenkollektivs.
WOHIN GEHT DIE REISE? ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN FÜR DIE BU
Auf den ersten Blick wirkt der Verzicht auf die konkrete Verweisung wie ein Paradies für Verbraucherinnen und Verbraucher: maximale Sicherheit, keine Angst vor dem Verlust der BU-Rente bei Jobwechsel. Doch das Bild trügt. Versicherung lebt von Solidarität – viele zahlen für wenige, um echte Notlagen abzusichern. Wird der Verzicht zur Regel, geraten die Kalkulationsgrundlagen ins Wanken.
In einer sich rasch wandelnden Arbeitswelt mit hybriden Tätigkeiten, digitaler Selbstständigkeit und flexiblen Arbeitsmodellen verschwimmen klassische Berufsdefinitionen zunehmend. Dadurch stößt die konkrete Verweisung immer öfter an ihre Grenzen, denn es wird schwieriger zu bestimmen, was heute noch als „vergleichbare Lebensstellung“ gilt.
Die Zukunft der BU liegt daher weniger im pauschalen Verzicht, sondern in einer klugen Weiterentwicklung der Klausel. Präzisere Definitionen, transparente Nachprüfungskriterien und flexible Modelle, die eine Teilrückkehr ins Berufsleben ermöglichen, ohne den Versicherungsschutz zu gefährden, könnten helfen, die Balance zwischen Fairness und Stabilität zu wahren.
Die konkrete Verweisung ist kein Relikt, sondern ein Instrument, das mit Fingerspitzengefühl eingesetzt werden sollte. Denn nicht jeder Verzicht ist ein Fortschritt – aber jede Weiterentwicklung ist eine Chance für mehr Klarheit, Fairness und Vertrauen.
TUGCE YÖRÜKOGLU




