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DIW: Solidaritätszuschlag weg, Spitzensteuersätze rauf

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 12. November 2024 eine Verfassungsbeschwerde gegen den Solidaritätszuschlag

Bundesverfassungsgericht © BVG

Finanzpolitisch ist der Zuschlag dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung kaum noch zu begründen. Zwar bestehen weiterhin vereinigungsbedingte Belastungen des Bundes. Diese können aber mit dem bestehenden Steuer- und Finanzausgleichssystem bewältigt werden. Wenn der Solidaritätszuschlag in den kommenden Jahren reduziert oder abgeschafft wird, sollten Steuersenkungen für Hochverdienende vermieden werden. Steuerentlastungen sollten auf Erwerbstätige mit niedrigen und mittleren Einkommen sowie auf Unternehmen konzentriert werden. Daher sollte der Solidaritätszuschlag bei Hochverdienenden in den Einkommensteuertarif integriert werden.

Der Solidaritätszuschlag wird seit 1995 dauerhaft erhoben, um die Kosten der Deutschen Einheit zu finanzieren. Dreieinhalb Jahrzehnte nach Mauerfall und Wiedervereinigung kommt der Zuschlag zunehmend unter Druck – politisch und auch (verfassungs-)rechtlich. Union und FDP fordern seine Abschaffung. Seit dem Auslaufen des Solidarpaktes II im Jahre 2019 ist die finanzpolitische Bewältigung der Wiedervereinigung weitestgehend abgeschlossen. Es gibt nur noch wenige unmittelbare vereinigungsbedingte Ausgaben im Bundeshaushalt. Seit Jahren klagen Steuerpflichtige gegen den Solidaritätszuschlag. Die Finanzgerichte haben diese bisher zurückgewiesen, zuletzt der Bundesfinanzhof Anfang 2023. Derzeit verhandelt das Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde von FDP-Abgeordneten gegen den Solidaritätszuschlag. Eine Entscheidung wird in den nächsten Monaten erwartet.

Solidaritätszuschlag belastet derzeit nur noch die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung

Der Solidaritätszuschlag ist eine Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, der als Zuschlag auf die Steuerschuld erhoben wird. Von Mitte 1991 bis Mitte 1992 galt er für ein Jahr mit einem Zuschlagssatz von 7,5 Prozent. Seit 1995 gilt er unbefristet. In der damaligen Gesetzesbe­gründung wurde eine mittelfristige Überprüfung angekündigt. Seit 1998 beträgt der Zuschlag 5,5 Prozent der Steuerschuld.

Bis 2020 zahlten die meisten Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen den Solidaritätszuschlag. Es galt eine Freigrenze von zuletzt 972 Euro für Singles (für Verheiratete der doppelte Betrag). Diese wurde mit dem Steuertarif 2020 bei einem zu versteuernden Einkommen von 14 550 Euro erreicht (für Verheiratete der doppelte Betrag). Dadurch bezahlten auch Geringverdienende den Solidaritätszuschlag. Ab 2021 wurde die Freigrenze auf 16 956 Euro erhöht und in den Folgejahren angepasst. Für 2025 ist mit dem Steuerfortentwicklungsgesetz eine Erhöhung auf 19 950 Euro geplant.

Mit dem geplanten Einkommensteuertarif wird diese Freigrenze bei einem zu versteuernden Einkommen von 73 470 Euro erreicht (Abbildung 1). Bei einem alleinstehenden Arbeitnehmenden mit Standardabzügen entspricht dies einem Bruttoeinkommen von 89 000 Euro im Jahr, bei verheirateten Steuerpflichtigen dem doppelten Betrag.

In der anschließenden Milderungszone wird der Solidaritätszuschlag reduziert: Die Grenzbelastung wird auf 11,9 Prozent des Grenzsteuersatzes der Einkommensteuer begrenzt, um den „Fallbeileffekt“ der Freigrenze zu vermeiden. Dadurch reicht die Milderungszone bis 114 380 Euro zu versteuerndem Einkommen beziehungsweise 131 000 Euro Bruttoeinkommen. Der gesamte Grenzsteuersatz aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag steigt in dieser Zone auf 47,0 Prozent. Steuerpflichtige mit zu versteuernden Einkommen über 114 380 Euro werden nicht mehr entlastet, sie zahlen den vollen Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent. Die Grenzbelastung sinkt auf 44,3 Prozent.

Nach der aktuellen Steuerschätzung dürfte der Solidaritätszuschlag 2025 ein Aufkommen von 12,5 Milliarden Euro erzielen, einschließlich der geplanten Steuerentlastungen durch das Steuerfortentwicklungsgesetz. Davon entfallen schätzungsweise etwa 7,4 Milliarden Euro auf die persönliche Einkommensteuer – also auf Erwerbstätige mit Arbeitseinkommen,

Einzelunternehmer*innen und Personengesellschaften, Ruheständler*innen mit Alterseinkünften sowie Vermieter*innen. Die Körperschaftsteuerpflichtigen zahlen schätzungsweise 2,3 Milliarden Euro – also Unternehmen in der Rechtsform der Kapitalgesellschaft (GmbH, Aktiengesellschaften) oder Vereine und Stiftungen. 2,8 Milliarden Euro des Solidaritätszuschlag-Aufkommens entfallen auf die Kapitalertragsteuer, die Investor*innen auf inländische Zinsen und Dividenden bezahlen. Ausländische Steuerpflichtige zahlen schätzungsweise 0,9 Milliarden Euro des Solidaritätszuschlag-Aufkommens – dies betrifft ausländische Teilhaber*innen an inländischen Kapitalgesellschaften sowie ausländische Investoren, die mit inländischer Kapitalertragsteuer belastet werden.

Das Aufkommen der inländischen Steuerpflichtigen beträgt somit 11,6 Milliarden Euro. Es ist stark auf die Hochverdienenden konzentriert (Abbildung 2). Die einkommensreichsten fünf Prozent der Bevölkerung, die 2025 schätzungsweise bei einem persönlichen Bruttoeinkommen von 90 000 Euro im Jahr beginnen, zahlen 10,6 Milliarden Euro oder 91 Prozent des Aufkommens der inländischen Steuerpflichtigen.

Allein das reichste Hundertstel, das bei einem Bruttoeinkommen von 182 000 Euro im Jahr beginnt, zahlt 7,2 Milliarden Euro oder 62 Prozent des Solidaritätszuschlag-Aufkommens, je Steuerpflichtigen sind das 10 400 Euro. Die 90 Prozent der Bevölkerung, die bis zu einem Bruttoeinkommen von 67 000 Euro im Jahr reichen, tragen dagegen nur mit 0,8 Milliarden Euro oder sieben Prozent zum Aufkommen der Inländer*innen bei. Sie sind über Kapitalerträge oder Beteiligungen an Kapitalgesellschaften vom Solidaritätszuschlag betroffen.

Dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung ist der Solidaritätszuschlag kaum noch zu begründen

In diesen Tagen liegt der Mauerfall 35 Jahre zurück, im nächsten Jahr die Wiedervereinigung – also mehr als eine Generation. Viel wurde seitdem erreicht bei der Angleichung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in den ostdeutschen Ländern. Finanzpolitisch wurden riesige Mittel mobilisiert, die vor allem den Bundeshaushalt belasteten. Seit dem Auslaufen des Solidarpaktes II im Jahre 2019 ist die finanzpolitische Bewältigung der Wiedervereinigung weitestgehend abgeschlossen.

Bis heute besteht ein Rückstand bei Wertschöpfung, Einkommen und Vermögen in den ostdeutschen Ländern, der sich seit den Nullerjahren kaum noch reduziert hat. Daher gibt es weiterhin Ausgabenpositionen im Bundeshaushalt, die auf die langfristigen Nachwirkungen der Transformation in den ostdeutschen Ländern zurückzuführen sind – insoweit sie die anhaltend geringe Finanzkraft, verbleibende Investitionsbedarfe oder höhere Ausgaben für Sozialleistungen in den ostdeutschen Ländern ausgleichen.

In einer Studie für das Bundesfinanzministerium haben DIW Berlin und ifo Dresden diese Zusammenhänge im Jahr 2020 quantifiziert. Dabei wurden vereinigungsbedingte überproportionale Belastungen des Bundeshaushalts bis zum Jahr 2030 geschätzt. Zugrunde gelegt wurden Konzepte, die für die Fortschrittsberichterstattung zum Korb 2 des Solidarpaktes II entwickelt wurden. Eine grobe Aktualisierung dieser Schätzungen ergibt, dass die ausgewählten vereinigungsbedingten überproportionalen Belastungen des Bundeshaushalts aus heutiger Sicht mit 12,7 Milliarden Euro im Jahr 2025 zu veranschlagen sind, im Jahr 2030 wären es 14,0 Milliarden Euro. Im Vergleich dazu dürfte das Aufkommen des Solidaritätszuschlags 12,5 Milliarden Euro im Jahr 2025 betragen, sowie 15,7 Milliarden Euro im Jahr 2030.

Insoweit lässt sich das Aufkommen des Solidaritätszuschlags derzeit und auch in den kommenden Jahren noch durch vereinigungsbedingte Belastungen des Bundes begründen. Allerdings sind diese Belastungen gemessen am Volumen des Bundeshaushalts von etwa als 525 Milliarden Euro 2025 (einschließlich Sondervermögen und Nebenhaushalten) moderat. Und eine Generation nach der Wende verblasst der direkte Zusammenhang zur Wiedervereinigung. Auch in den westdeutschen Ländern gibt es erhebliche regionale Ungleichgewichte mit finanzschwachen Ländern und Gemeinden. Diese belasten ebenfalls den Bund und werden durch das bestehende Steuer- und Finanzausgleichsystem einschließlich der Sozialversicherungen bewältigt.

In der Finanzverfassung des Grundgesetzes wird in den Artikeln 105 ff. das Steuer- und Finanzausgleichsystem detailliert nach den föderalen Gebietskörperschaften austariert. Die Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftsteuer (Artikel 106 Abs. 1 Nr. 6 GG) gilt dabei als eine zusätzliche und grundsätzlich temporäre Besteuerungsoption des Bundes, um finanzielle Engpässe unabhängig von den großen Steuern und ohne Zustimmung des Bundesrats zu überwinden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig sinnvoll, den Solidaritätszuschlag dauerhaft mit den Kosten der Wiedervereinigung zu begründen. Das ist aber umstritten unter den Steuer- und Verfassungsrechtler*innen. Die Finanzgerichte und zuletzt der Bundesfinanzhof haben den Solidaritätszuschlag bisher als zulässig angesehen, das Bundesverfassungsgericht wird demnächst darüber entscheiden.

Auch finanzpolitisch ist eine Weitererhebung kaum noch zu rechtfertigen. Der Solidaritätszuschlag wurde zwar ab 1995 nicht mehr befristet, anders als 1991/1992. Es wurde aber eine regelmäßige Überprüfung angekündigt, so dass heute – eine Generation später und angesichts der veränderten finanzpolitischen Herausforderungen – eine Weitererhebung kaum noch zu vermitteln ist.

Wenn das Bundesverfassungsgericht den Solidaritätszuschlag als verfassungswidrig verwirft, reißt das eine Lücke von 12,5 Milliarden Euro in den nächsten Bundeshaushalt und in den der kommenden Jahre. Gegebenenfalls könnte das Gericht dem Gesetzgeber Vorgaben für einen schrittweisen Abbau machen. Es könnte aber auch entscheiden, dass der Solidaritätszuschlag bereits ab 2020 verfassungswidrig war, also nach dem Ende des Solidarpaktes II. Im Extremfall müssten dann die seitdem eingenommenen Steuerzahlungen zurückgezahlt werden – wie bei der Kernbrennstoffsteuer 2017.

Von 2020 bis 2024 beträgt das Aufkommen des Solidaritätszuschlags insgesamt 66,5 Milliarden Euro. Abgesehen von der etwas breiteren Wirkung im Jahr 2020, als noch die niedrige Freigrenze galt, würde dieses Geld im Wesentlichen an die einkommensreichsten fünf Prozent der Bevölkerung gehen, überwiegend an das reichste ein Prozent (Abbildung 2). Bei einem alleinstehenden Hochverdienenden, der über die letzten Jahre ein zu versteuerndes Einkommen von 150 000 Euro erzielt hat, dürfte sich die Steuerrückzahlung auf etwa 14 500 Euro belaufen. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 300 000 Euro in den letzten Jahren winkt eine Steuerrückzahlung von 32 000 Euro.

Bei Hochverdienenden wurde der Solidaritätszuschlag seit 1998 faktisch schon viermal abgeschafft

Als der Solidaritätszuschlag im Jahre 1995 dauerhaft eingeführt und 1998 der Zuschlagssatz auf 5,5 Prozent gesenkt wurde, hatten Spitzenverdienende und Hochvermögende deutlich höhere Steuersätze als heute. Bis 1998 lag der Einkommensteuer-Spitzensatz bei 53 Prozent, einschließlich Solidaritätszuschlag waren es 55,9 Prozent (Abbildung 3).

Die Unternehmensteuern waren ähnlich hoch. Zudem gab es noch die Vermögensteuer. Heute beträgt der Spitzensteuersatz nur noch 42 Prozent, ab zu versteuernden Einkommen von 278 000 Euro gilt der sogenannte Reichensteuersatz von 45 Prozent. Einschließlich Solidaritätszuschlag sind das 44,3 Prozent jenseits der Milderungszone beziehungsweise 47,5 Prozent beim Reichensteuersatz. Die Unternehmensteuern wurden gesenkt, Kapitalerträge wurden durch die Abgeltungsteuer entlastet und die Vermögensteuer wurde abgeschafft.

Das heißt bei Hochverdienenden jenseits der Milderungszone wurde der Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer seit 1998 faktisch schon viermal abgeschafft, selbst bei den Zahlenden des Reichensteuersatzes knapp dreimal. Zugleich sind hohe Einkommen in diesem Zeitraum deutlich stärker gestiegen als die Durchschnittseinkommen. Auch die Unternehmensteuern auf einbehaltene Gewinne wurden kräftig gesenkt. Geringverdienende und Mittelschichten mussten sich dagegen mit mageren Einkommenszuwächsen begnügen, die durch höhere indirekte Steuern, anhaltend hohe Sozialbeiträge und teilweise auch durch die kalte und warme Progression bei der Einkommensteuer belastet wurden und werden.

Das Fazit

Solidaritätszuschlag bei Hochverdienenden in den Einkommensteuertarif integrieren, Geringverdienende und Unternehmen entlasten

Wenn der Solidaritätszuschlag aus politischen und (verfassungs-)rechtlichen Gründen in den nächsten Jahren reduziert oder abgeschafft wird, sollten Entlastungen von Spitzenverdienenden vermieden werden. Deutschland steht vor großen wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen. Demografie und abnehmendes Potenzialwachstum belasten die öffentlichen Einnahmen. Bei öffentlichen Investitionen, Klimaschutz und Landesverteidigung haben sich große Ausgabenbedarfe aufgestaut. Hinzu kommen Unwuchten in den sozialen Sicherungssystemen sowie bei Steuern und Sozialbeiträgen, die Erwerbseinkommen und Unternehmen hoch belasten.

Vor diesem Hintergrund sollten Steuerentlastungen auf Erwerbstätige mit niedrigen und mittleren Einkommen sowie auf Unternehmen konzentriert werden. Neben der Verteilungsdimension sprechen dafür auch Wachstums- und Effizienzaspekte, insoweit Arbeitsanreize in der Breite gestärkt werden sollen und bei hohen Einkommen die Anpassungsreaktionen nicht sehr hoch sind, vorbehaltlich Steuergestaltungen.

Daher sollte die Abschaffung des Solidaritätszuschlags durch eine Erhöhung des Spitzen- und Reichensteuersatzes des Einkommensteuertarifs kompensiert werden, zum Beispiel auf 44 Prozent und 47,5 Prozent. Durch den Wegfall der Freigrenzen-Milderungszone würden die Steuerpflichtigen mit Solidaritätszuschlag um schätzungsweise 2,5 Milliarden Euro entlastet (Abbildung 4). Dies vermeidet den „Besserverdienenden-Prellbock“ durch den temporären Anstieg der Grenzbelastungen um knapp drei Prozentpunkte in der Milderungszone. Für Personenunternehmen könnte die Thesaurierungsbegünstigung verbessert werden, damit sie nicht von der Spitzensteuersatzerhöhung betroffen sind, wenn sie ihre Gewinne investieren.

Bei der Körperschaftsteuer sollte man den Solidaritätszuschlag nicht durch eine Steuersatzerhöhung kompensieren. Dies würde den – im internationalen Vergleich hohen deutschen Unternehmensteuersatz – moderat senken, von derzeit 30,5 Prozent (bei einem Gewerbesteuer-Hebesatz von 420 Prozent) auf 29,7 Prozent. Die Kapitalertragsteuersätze könnte man ebenfalls unverändert lassen, im Gegenzug die Abgeltungswirkung aufheben und die Kapitalerträge wieder bei der persönlichen Einkommensteuer erfassen – analog zum Status quo ante bis 2008 (mit Teileinkünfteverfahren bei Dividenden).

Diese Reform würde die öffentlichen Haushalte per saldo gut vier Milliarden Euro Einnahmen im Jahr kosten. Das restliche Aufkommen des Solidaritätszuschlags sollte man dazu einsetzen, vor allem untere und mittlere Einkommen durch eine Erhöhung des Grundfreibetrags und einen weniger schnellen Anstieg der Steuerprogression oder bei den Sozialbeiträgen zu entlasten. Die föderalen Verschiebungen bei den Steuereinnahmen zu Lasten des Bundes müssten gegebenenfalls durch Anpassungen beim Finanzausgleich kompensiert werden.

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